Was geschieht, wenn man nach Jahrzehnten der Verantwortung plötzlich vor dem eigenen Leben steht?
„Die Frau, die ich fast vergessen hätte“ ist die leise, ehrliche Geschichte einer Frau, die mit 59 Jahren bewusst aussteigt – aus dem Beruf, aus alten Mustern, aus einem durchgetakteten Leben. In Málaga begegnet sie nicht nur einem Mann aus ihrer Vergangenheit, sondern auch sich selbst.
Ein bewegende Erzählung über Freiheit, Reue, Neugier.
Der leere Raum
Wenn ich ehrlich bin, war der Entschluss zu gehen, einer der klarsten meines Lebens. Kein Drama, kein Streit. Nur ein Moment. Ich saß in meinem Büro in der 14. Etage, sah durch das Panoramafenster auf ein graues, endloses Stockholm, und dachte: „Ich habe genug.“ Genug entschieden, genug moderiert, genug geregelt. Genug funktioniert.
20 Jahre in der Automobilindustrie. HR-Managerin. Eine steile Karriere, unterm Strich erfolgreich. Ich war gut in dem, was ich tat – vielleicht zu gut. Ich war jemand, den man fragte, wenn es heikel wurde. Ich hatte gelernt, Menschen zu lesen wie Bilanzen, ihre Stärken zu erkennen und ihre Schwächen still zu deckeln. Ich hatte Pläne gemacht, Personal umgebaut, Menschen angestellt und entlassen, Konflikte geglättet, Karrieren geformt und beendet. Und darüber hinweg ein großer Teil meines eigenes Leben vertagt. Ich tat es gerne.
Mit 59 Jahren bin ich freiwillig ausgestiegen. Die Kollegen waren freundlich irritiert. „Jetzt schon?“ „Du könntest doch noch so viel bewegen.“ Ich nickte, lächelte, verabschiedete mich. Und dann war ich draußen. Ohne Plan. Ohne Chef. Ohne Termindruck. Und ehrlich gesagt: Ohne Richtung.
Die ersten Wochen waren berauschend. Spazieren, lesen, schlafen, schwimmen, Sportstudio, Theater, Konzerte. Dann wurde es still. Still in einer Art, die sich etwas leer anfühlte. Kein Wecker, keine E-Mails, keine Agenda. Ich trank Kaffee im Stehen, aus Gewohnheit. Ich ging um elf ins Bett und war um vier wach. Ich sortierte Schubladen, mistete Schränke aus. Ich fragte mich: Was fängt man an mit der Zeit, die keiner mehr füllt?
Ich war nicht unglücklich. Ich war nur – richtungslos.
An einem Dienstagabend, es peitschte der Regen gegen die Fensterscheiben, klickte ich mich durch Reiseportale. Ohne Ziel, mehr aus Gewohnheit als mit Absicht. „Sonne tanken“. „Andalusien erleben“. Dann ploppte ein Angebot für eine Ferienwohnung in Málaga auf. Ich erinnerte mich nicht, je über Málaga nachgedacht zu haben. Ich kannte niemanden dort, hatte keine Geschichte, kein Bild. Und trotzdem blieb ich hängen.
Málaga. Ein Wort wie ein warmer Wind.
Zehn Minuten später hatte ich gebucht. Eine Woche, Altstadt, kleiner Balkon. Ich sagte niemandem Bescheid. Ich wollte kein Gespräch darüber führen, was mich dorthin zog. Ich wusste es ja selbst nicht.
Am Abend vor dem Abflug packte ich meinen Koffer. Leichtes Gepäck. Zwei Bücher, mein Tagebuch, das ich seit Jahren nicht benutzt hatte. Ich legte es obenauf. Vielleicht, dachte ich, finde ich dort etwas, das ich verloren habe. Oder zumindest den Mut, wieder zu suchen.
Fremd in der Wärme
Als ich das Flugzeug verließ, war es, als hätte jemand die Farbe zurück in die Welt gemalt. Die Luft war weich und angenehm warm. Ich war müde vom frühen Aufstehen, aber das Licht von Málaga streifte mein Gesicht wie ein Versprechen. Kein Spektakel, nur die leise Ahnung: Hier könnte etwas beginnen.
Mein Apartment lag in der Altstadt, in einer der kleinen Gassen, wo Wäscheleinen zwischen den Häusern gespannt sind und das Leben auf den Balkonen spielt. Der Vermieter, ein älterer Herr mit weichen Augen und ruhiger Stimme, drückte mir die Schlüssel in die Hand und wünschte mir einen schönen Aufenthalt. Ich nickte dankbar und war froh, dass wir uns auf Englisch verständigen konnten, denn Spanisch spreche ich leider nicht.
Die Wohnung war schön und liebevoll eingerichtet. Terrakottafliesen, eine Lounge-Ecke, ein Stehtisch mit Barhockern am Fenster, ein winziger Balkon, auf dem gerade zwei Stühle Platz fanden. Ich stellte meinen Koffer ab, öffnete die Fensterläden und ließ den Lärm des Treibens in der Altstadt von Malaga herein.
Ich machte mir einen Kaffee, setzte mich auf den Balkon und beobachtete das Leben unter mir. Ich war allein. Aber zum ersten Mal seit Langem fühlte sich das nicht wie Einsamkeit an.
Später ging ich los, ohne Ziel. Ich ließ mich durch die schönen Gassen treiben, beobachtete die Menschen und genoss die Sonne in meinem Gesicht. Ich sah kleine Läden, geflieste Hauseingänge, Cafès, Tapasbars, hörte Gesprächsfetzen, die ich nicht ganz verstand. Alles war neu. Und doch nicht fremd. Als hätte mein Körper gewusst, dass er hierher musste, bevor mein Kopf es verstand.
Am Abend, beim Essen in einer typischen Tapasbar, die gleich um die Ecke meines Apartments war, hörte ich plötzlich eine Stimme. Eine Männerstimme, ruhig, ein wenig tiefer als gewöhnlich. Sie sagte meinen Namen.
„Karin?“
Ich drehte mich um.
Er stand da. In der Tür, ein paar Meter entfernt. Jeans, weißes Hemd, etwas ergraut, die Haltung aufrecht. Und dieser Blick. Direkt. Klar. Verwundert. Und plötzlich war ich zurück in einer anderen Zeit.
Leon.
Wie ein Puzzlestück, das mir gefehlt hatte, ohne dass ich wusste, dass es existierte.
Stimmen der Vergangenheit
Ich hatte ihn seit über 15 Jahren nicht gesehen. Und doch erkannte ich ihn sofort. Es war weniger sein Gesicht als die Haltung, der Blick, dieser unausgesprochene Ton, der ihn schon damals von anderen unterschied. Leon war niemand, der laut wurde, um gehört zu werden. Er war jemand, der schweigen konnte – und man hörte trotzdem hin.
„Was für ein unglaublicher Zufall, dich hier zu treffen“, sagte er und setzte sich an meinen Tisch, ohne zu zögern.
„Ich habe nicht damit gerechnet, überhaupt jemanden zu sehen, den ich kenne.“ Ich versuchte zu lächeln, aber mein Herz schlug zu laut.
Er bestellte ein Glas Wein. Ich trank bereits einen, war mir aber plötzlich nicht mehr sicher, ob ich ihn schmeckte.
„Was machst du hier, Leon?“
„Ein Vortrag in Granada. Danach ein paar freie Tage. Ich war vor Jahren schon einmal hier. Die Stadt hat mich nie ganz losgelassen.“
„Und du?“
„Ich bin geflohen“, sagte ich. „Vor zu viel Freiheit, glaube ich. Und vor mir selbst.“
Er sah mich an, ernst. „Ich erinnere mich an dich als eine Frau, die alles im Griff hatte.“
„Ich hatte alles im Griff. Nur nicht mich.“
Wir schwiegen. Aber es war kein unangenehmes Schweigen. Eher eines, das Raum machte.
Eine andere Sprache
In den nächsten Tagen sahen wir uns wieder. Zuerst zufällig. Dann geplant. Ein Kaffee auf der Plaza. Ein Spaziergang durch die Alcazaba. Ein Besuch im Museo Carmen Thyssen. Immer wieder spürte ich, wie sich mehr und mehr etwas in mir entspannte. Als würde ich langsam aus einem zu engen Korsett schlüpfen.
Leon war vorsichtig. Er fragte nicht zu viel. Er erzählte leise von seinem Leben, von den Jahren nach unserer Begegnung damals. „Ich habe mich in meine Arbeit geflüchtet. Wie du vielleicht auch. Aber irgendwann merkst du: Arbeit liebt dich nicht zurück.“
Ich musste lachen. Es war ein bitteres Lachen, aber ehrlich.
Wir saßen abends an der Hafenpromenade. Vor uns das Meer, hinter uns das Licht der Stadt.
„Weißt du, was ich vermisse?“, fragte ich.
„Sag es mir.“
„Eine Sprache, die nichts leisten muss. Kein Ergebnis braucht. Einfach nur da ist.“
Er schwieg kurz, dann sagte er: „Dann sollten wir sie lernen. Zusammen.“
Schatten, die bleiben
Am vierten Tag war ich allein unterwegs. Ich brauchte Abstand. Nicht von ihm. Von mir.
Ich ging durch die kleinen Straßen, kaufte mir eine alte Postkarte, setzte mich in ein Café und begann zu schreiben. Nicht an jemanden. Nur so. Wörter, die kamen. Erinnerungen, die blieben. Die Postkarte schickte ich später dann doch an mich ab.
Ich erinnerte mich an eine Entscheidung, die ich vor vielen Jahren getroffen hatte. Ein Projekt. Eine Versetzung. Leon hatte sich damals für das Projekt (Implementierung eines übernommenen Unternehmens in unsere Firmengruppe) und die Versetzung nach Portugal entschieden. Ich hatte abgelehnt. Aus Prinzip. Aus Angst. Vielleicht auch, weil ich spürte, dass die Nähe zu Leon gefährlich werden und meine Karriere negativ beeinflussen könnte.
Ich hatte so lange geglaubt, Unabhängigkeit bedeute, niemanden zu brauchen. Heute wusste ich: Wahre Autonomie besteht darin, wählen zu dürfen, wen man braucht – und wann.
Auf Anfang
Am letzten Abend kochte ich. Pasta, ein einfacher Tomatensalat, etwas Brot. Leon kam mit einer Flasche Wein und einem Buch unter dem Arm.
„Für dich“, sagte er. „Ein Roman über das Wiederfinden. Ich dachte, es passt.“
Wir aßen auf dem kleinen Balkon. Die Luft war mild, der Himmel dunkelte langsam ein.
„Glaubst du, wir hätten damals funktioniert?“, fragte ich.
Er sah mich lange an. „Nein. Ich glaube, wir hätten uns gegenseitig überfordert.“
„Und heute?“
„Heute sehen wir uns. Wirklich. Das ist ein Anfang.“
Ich nickte. Ich wusste, dass er recht hatte.
Rückkehr mit Aussicht
Der Abschied war leise. Kein Versprechen. Nur ein Blick, ein Händedruck, eine Nachricht von Leon auf dem Handy: „Ich komme im Sommer. Wenn du willst.“
Ich flog zurück nach Stockholm. Das Licht war klarer als vorher. Oder ich war es.
In mein Tagebuch, das ich in Málaga nicht ein einziges Mal benutzt hatte, begann ich am nächsten Tag zu schreiben. Es bewegte sich etwas.
Am Abend ging ich an den Schären spazieren. Der Wind war kühl, aber nicht schneidend. Und ich dachte: Vielleicht dreht er gerade. Und vielleicht drehe ich mit.
Das offene Fenster
Zuhause in Stockholm vergingen die ersten Tage wie durch Watte. Ich hatte wieder Termine im Kalender – Friseur, ein Zahnarztbesuch, die Einladung einer alten Kollegin. Ich ging hin, sprach, lächelte, aber innerlich fühlte ich mich abwesend. Nicht unglücklich. Nur nicht ganz angekommen.
Eines Morgens öffnete ich die Balkontür, und der Wind war da. Anders. Milder. Nicht mehr so grau. Ich trat hinaus, und für einen Moment roch es, als hätte jemand einen Hauch Málaga mitgebracht. Es war nur eine Erinnerung. Aber sie wärmte mich.
Ich setzte mich mit meinem Tagebuch an den Tisch und begann zu schreiben. Keine Erlebnisse, keine Geschichte. Nur Gedanken. Wortfragmente. Und zum ersten Mal hatte ich nicht das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen. Nicht vor mir selbst, nicht vor anderen.
Ich ließ das Fenster offen. Vielleicht würde noch etwas hereinkommen.
Stimmen auf Papier
Leon schrieb mir. Erst eine Nachricht, dann eine Postkarte. Kein Pathos. Nur ein Satz: „Ich bin noch da.“
Ich antwortete nicht sofort. Ich wollte nicht reagieren, sondern empfinden. Fühlen, ob die Sehnsucht echt war – oder nur eine Projektion. Aber sie war da. Leise. Konsequent. Und dann schrieb ich ihm zurück. „Ich auch.“
Wir telefonierten. Nicht lang. Aber lange genug, um zu wissen: Wir sprechen dieselbe Sprache. Eine, die wir vielleicht gemeinsam erfunden hatten, ohne es zu merken.
Ich fing an, Pläne zu machen. Keine Karrierepläne. Lebenspläne. Kleine Dinge. Ein Seminar für Kreatives Schreiben und für Lettering. Ein Nähkurs. Ein Wochenendtrip mit einer Freundin. Eine Fahrradtour. Museumsbesuche. Kino. Und im Juni – vielleicht – Málaga oder Stockholm. Oder beides.
Wenn der Wind dreht
Der Sommer kam langsam. Der Wind drehte. Ich spürte es. Nicht dramatisch. Aber deutlich.
Ich war nicht mehr dieselbe wie noch vor einem Jahr. Ich war weicher geworden. Vielleicht auch mutiger. Ich musste niemandem mehr etwas beweisen. Nicht einmal mir selbst.
Am letzten Junitag stand ich am Gate 102 im Flufghafen von Stockholm. Das Boarding für meinen Flug nach Malaga hat soeben begonnen.
Hinweis für Leser:innen: Diese Erzählung stammt aus der Perspektive einer Frau, die nach einem langen Berufsleben den Mut findet,
sich selbst wiederzuentdecken – mit Málaga als Bühne für eine späte, stille, aber tief bewegende Begegnung.
© Gaby Brommer-Eisele – alle Rechte vorbehalten.